Draghi-Bericht bringt Grundsatzdiskussion zur Wettbewerbsfähigkeit Europas
Bereits im Vorfeld der EU-Wahlen und der Formierung eines neuen EU-Kommissionskabinetts haben die Diskussionen um die Ausrichtung der Europäischen Union begonnen. Im Zentrum stehen dabei zwei Grundsatzdokumente: Ein Bericht von Enrico Letta zur Zukunft des EU-Binnenmarkts und ein weiteres Dokument zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union von Ex-EZB-Chef Mario Draghi.
Europas Wirtschaft unter Druck
Draghis Wettbewerbsfähigkeits-Bericht nimmt eine Analyse der EU-Wirtschaft vor und thematisiert mehrere Schwachstellen in der aktuellen EU-Wirtschaftsstruktur. Im Industriesektor fehlt demnach eine gemeinsame EU-Industriestrategie. Tatsächlich wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten Innovationen verschlafen, die industrielle Basis Europas versteinert zusehends. Besonders augenfällig wird das in der Autoindustrie, die beharrlich auf den Verbrenner gesetzt hat, während die Elektromobilität aus Drittländern, insbesondere China, immer stärker wird.
Völlig verpasst hat die EU auch die Entwicklungen im digitalen Sektor in den letzten zwei Jahrzehnten. Während in den USA Tech-Giganten wie Google, Meta oder Alphabet entstanden sind, hat Europa hinsichtlich digitaler Firmen so gut wie nichts vorzuweisen. Auch bei der künstlichen Intelligenz ist die Industrie gerade dabei die aktuellen Entwicklungen zu verpassen. Nicht zuletzt deswegen schlägt Draghi massive Investitionen von 750 bis 800 Mrd. Euro jährlich in die Europäische Wirtschaft vor. Innovationen seien notwendig.
Ein neuer Ansatz
Im Vergleich zu den bisher verfolgten Ansätzen, die in aktuellen Diskussionen zur Wettbewerbsfähigkeit noch häufig auf Exportorientierung und Lohndumping setzen, schlägt Mario Draghi einen neuen Weg ein. Sein Fokus liegt klar auf Investitionen und Innovationen, die sowohl die Produktivität steigern als auch die ökologische Transformation unterstützen sollen. Grundsätzlich ein positiver Paradigmenwechsel, wenngleich ein Großteil seiner Vorschläge auf angebotsseitigen Maßnahmen beruht.
Der Bericht von Mario Draghi ist jedoch angebotsorientiert und verharrt in einer Mainstream-Ökonomik. Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit werden als Vorbedingungen für ökologische und soziale Fortschritte dargestellt. Aus Arbeitnehmer:innen-Sicht ist eine derartige Positionierung aber bedenklich, weil damit eine Spar- und Wettbewerbsunion verfolgt wird. Die Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie der Klimaschutz werden entgegen den Ankündigungen zu Beginn des Berichts zu einem großen Teil ausgeblendet.
Bürokratieabbau auf Kosten der Beschäftigten?
Alarmierend sind insbesondere die Vorschläge, die als Gold Plating-Ansatz bezeichnet werden: Laut diesem Ansatz sollen jene nationalen Standards, die über die Minimalvorgaben auf EU-Ebene hinausgehen, im besten Falle gestrichen werden. Im äußersten Fall würde das zu einem Kahlschlag bei den in Österreich wesentlich fortschrittlicheren Standards in der Arbeits- und Sozialpolitik, dem Verbraucher:innenschutz, der Umweltpolitik und anderen gesellschaftspolitisch wichtigen Regeln führen. Derartige Überlegungen sind daher strikt abzulehnen.
Geht es um das Thema Bürokratieabbau fällt auf, dass es oft um die Streichung von Standards, die für die Beschäftigten und die Bevölkerung einen hohen Nutzen hat, geht. Zum Beispiel hat die Kommission eine EU-Richtlinie, die dazu beitragen soll, dass Beschäftigte Asbestbelastungen nicht mehr ausgesetzt sind als Verwaltungslast ohne Nutzen dargestellt. Dabei vergessen die Beamt:innen offensichtlich, dass diese Regelung sogar einen äußerst großen Nutzen hat, denn die Beschäftigten bleiben gesund, können Steuern zahlen und müssen nicht aus gesundheitlichen Gründen in Zusammenhang mit Asbestexposition in Frühpension gehen.
Draghi spricht sich dafür aus, rechtliche Regelungen radikal abzubauen, die Pflichten für die Betriebe bedeuten. So sollen Berichtspflichten handstreichartig für 99,8 Prozent der Unternehmen („KMU“) um 50 Prozent reduziert werden. Eine rein an einem Prozentziel ausgerichtete Vorgangsweise ist jedoch abzulehnen. Aus AK-Sicht ist es wesentlich besser derartige Pflichten kontinuierlich auf ihre Aktualität und Notwendigkeit zu überprüfen und erst dann zu entscheiden, ob eine Regel beibehalten, geändert oder gestrichen werden soll.
Die Arbeiterkammer hat erst vor kurzem eine neue Studie veröffentlicht, die das Konzept einer „Besseren Rechtsetzung“ und Bürokratieabbau kritisch hinterfragt. Sie kommt zum Schluss, dass dabei vor allem Unternehmensinteressen im Vordergrund stehen, statt das gesamtgesellschaftliche Wohl.
Investitionsquoten steigern wie in den 1970er Jahren
Sehr begrüßenswert ist hingegen die Forderung nach massiven Investitionen. Sein Vorschlag ist es, jährlich zwischen 750 und 800 Milliarden Euro in die europäische Wirtschaft zu investieren – Summen, die den Investitionsquoten der 1960er und 1970er Jahre entsprechen. Die Mittel sollen vor allem für Innovationen und zukunftsweisende Industrien verwendet werden. Ein solcher Impuls könnte auch entscheidend sein, um die ökologischen und technologischen Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Besonders hervorzuheben ist, dass Draghi hier auch auf die Notwendigkeit gemeinsamer öffentlicher Finanzierungsmodelle auf EU-Ebene hinweist. Sehr problematisch sind jedoch die geltenden Fiskalregeln auf EU-Ebene, die Investitionsinitiativen erheblich erschweren und damit den Plänen Draghis diametral entgegenstehen. Diese Probleme lässt er jedoch völlig unerwähnt.
Damit bleiben bei der Finanzierung dieser gewaltigen Beträge viele Fragezeichen. Er spricht jedoch die Notwendigkeit einer Kapitalmarktunion an. Ein großes privates Sparvolumens europäischer Haushalte könnte für derartige Investitionen verwendet werden, ein Großteil des Geldes fließt derzeit jedoch in die USA statt in der EU verwendet zu werden. Während institutionelle Investitionen in bestimmten Bereichen zweifellos von Bedeutung sind, darf dies nicht zu einer Schwächung des bewährten umlagefinanzierten Pensionssystems führen. Dieses hat sich als krisenfest und stabilisierend erwiesen. Eine Forcierung von privater Altersvorsorge birgt Risiken von Verlusten aufgrund fragiler Kapitalmärkte.
Reformen in der EU-Energiepolitik angehen
Draghi macht auf große Probleme im Energiesektor aufmerksam. Die Strompreise sind laut seinen Aussagen in der EU 2 bis 3 Mal so hoch wie in den USA. Bei den Gaspreisen sind sie sogar 4 bis 5 Mal so hoch. Konkrete Rezepte dagegen, wie eine Reform des Energiemarktdesigns oder ein Ende des Merit Order Systems bleibt er jedoch schuldig. Leider wird Atomstrom hingegen als gleichwertig zu erneuerbaren Energien dargestellt, was aus ökologischer Sicht höchst problematisch ist.
Zahlreiche weitere Vorschläge
Draghi befasst sich im rund 400seitigen Bericht Sektor für Sektor mit beinahe allen Wirtschaftsbereichen. Themen sind ua Rohstoffe, Digitalisierung und KI, Halbleiter, energieintensive Industrien, der Automobilsektor, die Pharmaindustrie, der Verkehr und die Verteidigungsindustrie.
Man kann gespannt sein, welche dieser Ideen von der Kommission in der neuen EU-Legislaturperiode aufgenommen werden. Nähere Aufschlüsse werden erst möglich sein, sobald das neue Kommissar:innengremium ihre Arbeit aufnimmt.